Die Toolbox stellt Schlüsselbegriffe und Zugänge für die interdisziplinäre Lehre zur Verfügung. Diese fußen auf den Grundgedanken der Humanities und wurden im Rahmen der Lehrprojekte unter zeitgemäßen Vorzeichen erprobt
und adaptiert.
Offenheit als Lerndisposition lässt sich einüben.
Sie trägt integral zur Erfahrung des Noch-Nicht-
Gewussten bei. Didaktisch begleitete Offenheit
weckt Neugier. Sie ist Voraussetzung für selbst-
ständiges Denken und Hinterfragung, und die
führt zu Relativierungsmächtigkeit, wie sie Voraus-
setzung eines demokratischen Kollektivs ist.
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Der Raumbegriff ist zentrale geistes- und
ingenieurwissenschaftliche Denkgrundlage
und zugleich ein Vorstellungsmodell kom-
plexer Wirklichkeiten. Ein in seiner Dreiheit
von physischer, (sozial) erlebter und ideo-
logischer Dimension verstandener Raum-
begriff ermöglicht es, zu einem komplexen
Gesellschaftsverständnis vorzudringen.
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Die Herstellung einer Gemeinschaft von
wechselseitig Lehrenden und Lernenden
ist die Grundlage für interdisziplinäres
Teamteaching auf Augenhöhe mit Studie-
renden. Sie ist grundsätzlich konfliktuell,
prozesshaft und Voraussetzung für eine
selbstständige Positionierung gegenüber
Gesellschaftsfragen.
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Das Erfassen komplexer Zusammenhänge, ein
Denken in Konstellationen verhindert ideologisch
vereinnehmbares Ursache-Wirkungsdenken.
Komplexitätsorientiertes Forschen und Denken
ermöglicht es, soziale Wirklichkeiten in ihren viel-
fältigen Facetten und Bedingtheiten zu begreifen.
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Das Konzept des Unlearning/Verlernen (Spivak)
hinterfragt Lernprozesse und Bildung in ihren
Verstrickungen mit Macht und Herrschaft. Dazu
werden die eigene Komfort-Zonen sowie vertraute
und gewohnte Perspektiven verlassen. Als didak-
tisches Instrument für Prozesse des Unlearning
lassen sich gezielt Irritation und Reibung in Bezug
auf gewohnte universitäre Lehr-Lern-Situationen
einsetzen.
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Lernprozesse bedürfen der längeren Dauer.
Der Faktor Zeit spielt eine fundamentale Rolle
in der Aneignung, Verarbeitung und Diskussion
von Wissen und Erkenntnis. Nachdenken, re-
flektieren und umsetzen von Wissen als Erkennt-
nisweg und praktische Erfahrung sind zentrale
Parameter der akademischen Ausbildung.
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Kurzbeschreibung:
Im kulturanthropologischen Werkzeugkoffer ist die (Selbst-)Reflexion, neben dem Beobachten und dem Dialog eines der zentralen Werkzeuge. Im Feldforschungsprozess gilt es als Forscher_in ständig die Bewegung zwischen Nähe und Distanz zum Forschungsfeld reflektierend in den Blick zu nehmen und als Erkenntnisquelle zu nutzen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Positioniertheit – im gesamtgesellschaftlichen Kontext sowie im jeweiligen Forschungszusammenhang – ist Basis für die Reflexion der Beziehungen im Feld, zu den handelnden Akteur_innen, deren Erfahrungen und Wissen. Die Selbstreflexion fließt in die Kulturanalyse ein, um kulturelle Phänomene in ihrer Komplexität darzustellen und die Forschungsergebnisse intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.
Gerade wenn es darum geht, die Bedingungen des Lernens und Lehrens zu reflektieren – wie dies in unseren Lehr-Lern-Settings explizit gewünscht war –, dann erhält die Methode der Selbstreflexion eine weitere Ebene, nämlich in Bezug auf Hochschuldidaktik und die Institution Universität. Dabei gehen mögliche Prozesse des Unlearning notwendigerweise mit Prozessen der Selbstreflexion Hand in Hand.
Erfahrungen:
Beispielhaft werden hier Erfahrungen aus dem Grazer Projekt angeführt. In Graz verteilten wir am Beginn des Lehrprojektes an alle Teilnehmer*innen – Studierende wie Lehrende – kleine Büchlein. Dieses Geschenk sollte – oder konnte – als Logbuch für zwei Aspekte genutzt werden: Als „Forschungstagebuch zur Umbruchs-Forschung im Grazer Stadtraum“ sowie als „Reflexionsbuch zum Laborcharakter des Lehr-Lehr-Formats“.
Wir regten an, das Büchlein für folgende Tätigkeiten heranzuziehen:
(1) Chronologische Dokumentation der eigenen Erkundungen und Erkenntnisse (– schriftlich, zeichnerisch, in Ergänzung auch auditive/visuelle supplements möglich); (2) Suche nach Notation/Sprache, die eigenen Überlegungen zu vermitteln, zu übersetzen; (3) Um immer wieder zum eigenen Arbeiten zurückzukommen und Distanz zum eigenen Denken herzustellen; (4) Um rückblickend die eigene Entwicklung herauslesen zu können.
Und wir gaben folgende Fragen zur Reflexion des Lehr-Lehr-Formats mit auf den Weg: Wie erlebe ich die unterschiedlichen Unterrichtsräume? Was verändert sich in meinem Denken, je nachdem wo ich mich aufhalte: in der Stadt, an der Universität, etc.? Was ist anders als bei anderen Lehrveranstaltungen? Was ver-lerne ich in diesem Lehr-Lern-Setting?
Die zu beobachtenden Nutzungsweisen dieser Bücher variierten stark. Während einige es gar nicht verwendeten oder für andere Zwecke umnutzten, wurde das „Umbruchs-Buch“ für andere zentraler Bestandteil ihres Werkzeugkoffers. Das Angebot eines konkreten Ortes, an dem solche Überlegungen Platz finden, verstärkte den Reflexionsprozess und wurde in Gesprächen immer wieder nutzbar gemacht.
Im Lehrenden-Team fanden die Reflexionsprozesse zum Lehr-Lern-Format insbesondere in den vor- und nachbereitenden Gesprächen im dialogischen Setting statt. Dabei machten wir die Erfahrung, wie durch das von Offenheit und gegenseitiger Neugier geprägte, interdisziplinäre Ping-Pong vernetztes Wissen entstand, das uns in der Choreografierung des Lehr-Lern-Projektes vorantrieb.
Anwendung:
Gerade in interdisziplinären Lehr-Lern-Settings können einfache Tools und konkrete Anleitungen für das Einüben in Selbstreflexivität hilfreich sein. Solche Prozesse entstehen nicht von selbst und es macht daher Sinn, den Faden der Selbstreflexion immer wieder bewusst aufzunehmen. Wir empfehlen daher klar definierte Zeiträume für das Abholen der Reflexionsübungen und ausreichend Zeit für den Austausch darüber. Dies kann erleichtern, dass sich die Studierenden nicht nur in Bezug auf das Forschungsfeld, sondern ebenso im alltäglichen Handeln, als ihr eigenes „Messgerät“ wahrzunehmen lernen.
Kurzbeschreibung
Kulturanalyse (conjunctural analysis) ist eine interdisziplinär angelegte und an Komplexität orientierte Methodologie[1]. Ihr liegt die Auffassung zugrunde, dass Kultur (und damit Gesellschaft) durch menschliches Handeln hervorgebracht wird und zugleich dessen Handlungshintergrund darstellt (Werte, Beziehungen, Dinge, Ideen, Auffassungen). Sie ermittelt die Art und Weise, wie Menschen auf Strukturveränderungen reagieren, diese dabei selbst reproduzieren[2], aber sie auch verändern können.
Erfahrungen
Kulturanalyse lässt sich als Zusammenhangsdenken beschreiben. Sie erfordert ein Denken in Konstellationen. Wirklichkeiten, d.h. Situationen, Geschehnisse, Handlungen und Diskurse fasst sie als komplexe und kontroversielle Gebilde auf. Deren Faktoren und Dimensionen werden in ihrem Zusammenwirken betrachtet, in ihren Abhängigkeiten, Pfaden und Antagonismen. Erst aus einem solchen „Verweisungsganzen" bezieht „das einzelne kulturelle Phänomen seinen Sinn" (Bude 1991: 107). Das Verweisungsganze lässt sich zwar im Bedingungsfeld der systemischen Struktur verorten, es entwischt und entgleitet ihr aber auch, denn es ist fundamental transgressiv – die Praxen überschreiten stets die Grenzen der vorgegebenen sozialen und auch der wissenschaftlichen Ordnungen. Kulturanalyse findet stets ein diskontinuierliches Erfahrungsfeld vor: Sie interessiert sich für Widersprüche und Ungereimtheiten eines Phänomens und sucht es mit einem dem Gegenstand immer wieder neu angemessenen Methodenbündel zu erschließen und in komplexe Interpretationszusammenhänge einzubetten.
Schlüssel zur Kulturanalyse ist es, an einem Widerspruch anzusetzen. Der Widerspruch etwa einer Grenze, ihr Paradoxon, besteht darin, dass sie zugleich abschließt wie auch öffnet. Sie ist Grenze und Möglichkeit zugleich. Ebenso der Umbruch: Umbrüche verheißen vielversprechend Neues, während sie zugleich durch den drohenden Verlust des Bekannten ängstigen. Die Kulturanalyse möchte diese Widersprüche nicht auflösen, sondern nutzt sie als Erkenntnisschlüssel zum Verstehen kultureller Bedeutungen.
Anwendung
Die Studierenden waren eingeladen, der Frage nachzugehen: Wo und wie manifestieren sich Umbrüche im Stadtraum? Ausgehend von konkreten städtischen Orten, die aufgesucht und erfahren wurden, ergeben sich in der Gruppe diskutierbare Fragen zu den eigenen Beobachtungen und Gedanken. Erhebungen an Narrationen, Diskursen, Objekten, Bildern, Formen, Situationen konkretisieren die sich stellenden Fragen. Entlang von biografischen Erfahrungen, kognitiven Wahrnehmungen, Einstellungen oder Verhalten, aber auch anhand der Materialitäten von gebauten Räumen, Algorithmen oder Gütern werden Veränderungen, die sich stets auf Menschen, Gesellschaft und die materielle Welt auswirken, greifbar. Solche Veränderungen verweisen auf gesellschaftliche Transformationsprozesse auf der Metaebene oder auch auf punktuelle Ereignisse als deren Auslöser. Über vielstimmige Erhebungen und Verdichtungen werden die politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse sichtbar, die im Hintergrund der im Alltag greifbaren Symptomatiken stehen.
Weitere Literatur
Bal Mieke. Kulturanalyse. Frankfurt/ Main, 2002.
Bude Heinz. Die Rekonstruktion kultureller Sinnsysteme. In: Uwe Flick et al. (Hg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. München 1991, S. 101-112.
Moritz Ege. Cultural Studies als Konjunktur- und Konstellationsanalyse. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften: Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Ausgabe 2, 2019, S. 101-104.
[1] Lindner Rolf. Vom Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde II, 2003, S. 177-188.
[2] Katschnig-Fasch Elisabeth. Spätmoderne Lebenswelten. In: Siegfried Becker et al. (Hg.), Volkskundliche Tableaus. Festschrift für Martin Scharfe. Münster u. a. 2001, S. 457-470.
Kurzbeschreibung
Die Raumtriade veranschaulicht das dynamische Interagieren, die Relationalität von Mensch, Gesellschaft und gebauter Umwelt. Im Alltagshandeln werden individuelles Erleben unter dem Einfluss des Gesellschaftlichen (Struktur, Dispositiv, Repräsentation) und seiner Handlungsgrammatik mit der Erfahrung des physischen Raumes verknüpft. Physische und soziale Räume werden von Individuen handelnd und kommunizierend erschlossen. Sie werden dadurch zu Erfahrungsräumen, die im Alltag produziert werden und hier ihre kulturelle Wirksamkeit entfalten.
Diese akteurszentrierte, das heißt, an agency (Handlungsmächtigkeit) orientierte Perspektivierung der sozialen Welt entfaltet ihre Wirkung in Forschungsprozessen ebenso wie in Lernsituationen – dann etwa, wenn der Klassenraum als Lernort hinterfragt wird. Als Vorstellungsmodell veranschaulicht die Triade die Komplexität sozialer Prozesse. Die handlungstheoretisch arbeitenden Humanities fokussieren bei diesem Modell die Möglichkeiten und Zwänge individuellen Handelns, etwa normative Kodierungen, während ingenieurwissenschaftliche Zugänge am Gebauten ansetzen, um von dort aus die Bezüge und Bedingtheiten des Gesellschaftlichen zu erschließen. Der trialektische Charakter des Modells verwahrt vor dialektischen, (zu) kurz greifenden Ursache-Wirkungsschlüssen. Er veranschaulicht die Komplexität und Relationalität von gelebten, sozialen und gebauten Räumen.
Erfahrungen
Die raumtriadische bzw.-trialektische Vorstellung beeinflusst als mindset die empirische Umweltwahrnehmung und die Konzeptualisierung einer Thematik. Wie stellt sich dies am Beispiel der Kursthemen „Grenze" oder „upheaval/ Umbruch" dar? Beide Themen werden sowohl als gedachtes, als auch als konkretes Konzept oder Phänomen greifbar. Grenzen als konkrete Thematik in ihrer Konnotationsbreite aufzufassen – im Sinne von u.a. nationalstaatlichen Grenzen, von sozialen Normen oder gebauten Barrieren – ermöglichen ein an Komplexität orientiertes Denken, das individuell und in der Gruppe assoziier- und diskutierbar ist. In einer Dreiheit gedacht, treten Grenzen als soziale Handlungsräume, als gesellschaftlich gesetzte Normierungen wie auch als konkrete Hindernisse in Erscheinung. Umbrüche als abstrakte, schwer fassbare Thematik, wie sie aktuell auch das weltweite Pandemiegeschehen betrifft, trialektisch zu begreifen, erleichtert ihre Erschließung und Konkretisierung: physische Manifestationen von Umbrüchen im Stadtraum wie etwa Gentrifizierung über Abriss oder Neubau erlauben es, gesellschaftliche Metaprozesse ökonomischer oder sozialer Natur zu dechiffrieren und das forschende Selbst wie das gesellschaftliche Individuum in Wahrnehmung und Handlung in Bezug dazu zu setzen.
Anwendungen
Durch den Wechsel von Unterrichtsräumen wie auch durch die Begehung konkreter Räume in der gebauten Umwelt kommt eine Gruppe ins Sprechen: ins Kollektiv. Es entstehen Dialoge und Diskussionen. Der Austausch über individuelle Wahrnehmungen und Raumauffassungen veranschaulicht deren Diversität und Heterogenität. Hieraus erwächst die Diskutierbarkeit als demokratische Wissenspraxis in der Auseinandersetzung mit Umwelten. Der Austausch über Räume und Raumerleben offenbart stets Machtrelationen, die an die Erstellung, Gestaltung, Normierung und Funktionalität von Räumen geknüpft sind. Das Moment der Bewegung offenbart Handlungs- und damit Veränderungsmöglichkeiten und wird dadurch zu einer Praxis des Empowerment.
Kurzbeschreibung:
Mit dem Ziel bestehende Strukturen und Gewohnheiten im akademischen Alltag aufzubrechen, nutzten wir Irritation als didaktisches Instrument für Prozesse des Unlearning. Irritation setzt an Ambivalenzen an und führt nicht selten zu Umwegen (Détours) die wiederum ein Umdenken und unerwartete Erkenntniswege eröffnen (können). „Methode ist Umweg“ nannte das bereits Walter Benjamin und in diesem Sinn können Irritationen und Umwege als forschungsleitend verstanden werden.
Mit Irritation zu arbeiten ist auch eine bekannte künstlerische Strategie, um das Gegenüber (oder sich selbst?!) aus der Komfortzone zu bugsieren und (Selbst-)Reflexionsprozesse anzustoßen. Ähnlich den Situationisten, die mit ihren situativen Interventionen in den städtischen Alltag einen anderen Blick auf Stadt provozierten, arbeiteten wir in den Lehr-Lern-Seminaren mit immer neuen räumlichen Settings, um in den akademischen Alltag zu intervenieren und ein neues Denken von Universität anzustoßen.
Interdisziplinäre Zugänge zwischen ethnografischen, künstlerischen und architekturgeleiteten Ansätzen sowie weitere methodische Erfindungen (inventive methods) bildeten die Grundlagen der choreografierten Irritation.
Erfahrungen:
Wir setzten Irritation gezielt in Bezug auf gewohnte universitäre Lehr-Lern-Situationen ein:
Durch ein interdisziplinäres, vielstimmiges Zusammenkommen und ein kontinuierlich raumwechselndes Setting wurden vertraute soziale und räumliche Umgebungen hinterfragt oder gar aufgebrochen, um bestenfalls gemeinsam neue Perspektiven erarbeiten zu können.
So wurde der Klassenraum an den Universitäten verlassen und das Lernen in anderen Räumen zu einem zentralen Reflexionsmoment: In Vaduz verließen die Studierenden den Klassenraum, um ethnografische Erkundungen im Umland durchzuführen. In Hamburg fand das Lehrprojekt in einer einwöchigen Camp Situation in einem Stadtentwickelungsgebiet statt. In Graz wechselten die Lernorte zwischen Seminarräumen der Universität Graz, einer ehemaligen Turnhalle an der Technischen Universität, dem Ausstellungesraum Forum Stadtpark, einer Mehrzweckhalle im Grazer Umland sowie einem Ort des Widerstands gegen das NS-Regime (Landhaus Feuerlöscher). Das (interdisziplinäre) Teamteaching war ein weiteres Irritationsmoment: die Vielstimmigkeit und unterschiedlichen Positionen verhinderten eine eindimensionale Zuordenbarkeit von „richtig“ und „falsch“, dabei entstand ein Zwischenraum, in dem die Studierenden aufgefordert waren durch selbstständiges Denken ihre eigene Position zu finden und zu formulieren. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen ist eine grundlegende Voraussetzung für einen veränderten Umgang mit der Institution Universität und die Überschreitung ihrer Grenzen durch ungewohnte Lehr-Lern-Settings. Für die Lehrprojekte wurden Themen gewählt, die auf gesellschaftliche Spannungsverhältnisse verweisen: Grenze in Vaduz, Eigentum/Property in Hamburg und Umbrüche in Graz.
Anwendung:
Als didaktisches Mittel birgt die gezielt eingesetzte Irritation Potenzial für unerwartete Wendungen, allerdings ebenso für Frustration und Konflikt. Für ein produktives Arbeiten ist daher Offenheit, Entschlossenheit sowie ein gut choreographierter Rahmen mit Ankerpunkten auch unter Rückgriff auf vertraute Strukturen und Elemente wichtig. Für alle Beteiligten zentral ist hierbei das Aushalten von Ungewissheiten und Leerstellen im Prozess, um Eigeninitiative und selbstständigem Denken für das Erkunden neuer Perspektiven Raum zu geben. Irritationsprozesse erfordern eine aufmerksame Planung von Raum und Zeit, die auch Umwege zulässt und eine gemeinsame Reflexion der Unwägbarkeiten und Verunsicherungen vorsieht. Wir empfehlen Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeit zuzulassen und produktiv zu machen.
Weitere Literatur
Spivak, Gayatri Chakravorty (1996): The Spivak Reader. Hg. von Donna Landry u. Gerald Maclean. New York/London: Routledge.
Castro Varela, María do Mar: (Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess, in: Migrazine, 2017/1, http://www.migrazine.at/; http://www.migrazine.at/artikel/un-wissen-verlernen-als-komplexer-lernprozess (abgerufen am 4.09.2020)
Kurzbeschreibung
Die Arbeit mit Objekten, etwa Alltagsdingen, unterstützt die Herstellung eines Klassenraumkollektivs. Dinge können eigenwillig sein. Sie lösen individuelle Assoziationen aus, die auf geteilten (und kulturell präfigurierten) gesellschaftlichen Erfahrungen beruhen. Ihnen wohnt ein epistemischer Charakter inne, d.h. eine Verweiskraft auf etwas außerhalb ihrer selbst, ihrer Bedeutung und Bedeutungszuschreibung Liegendes. Dieses Dritte bezeichnet eine Dimension jenseits sowohl der gesellschaftlichen Funktion eines Objektes als auch der individuellen Erfahrungsebene. Über diese Funktion kann mit großer Offenheit an ein Thema herangegangen werden.
Erfahrungen
In Vaduz waren die Studierenden und Dozierenden angehalten, in die erste Einheit ein Objekt mitzubringen, das einen persönlichen Bezug zum Seminarthema der Grenze herstellt. In Sesselkreis wurden Objekte in den Mittelpunkt gelegt und besprochen: ein Geldschein, ein Passport, ein Stein, eine Landkarte. Ganz ähnlich sollten die Teilnehmer_innen Graz zur zweiten Seminareinheit Objekte mit Bezug zum Thema des Umbruchs/upheaval mitbringen: eine Tomate, eine Kerze, abgeschnittene Jeans, ein Menstruationscup, eine gelbe Schleife u.v.m. Hier schloss sich an das Auflegen eine moderierte Diskussion an, in der Kategorien gebildet und erste Gruppen gebildet wurden.
Der Zusammenhang zwischen Objekt und Thema wird in beiden Fällen erst über die Erzählung hergestellt. Alle anderen erfahren zugleich etwas Persönliches über die zunächst fremde Person. Gleichzeitig wird die Vielstimmigkeit möglicher Themenzugänge deutlich. Die gemeinsame Diskussion aller zu den Objekten und Geschichten, mündet in eine erste Diskussion zu Facetten und Widersprüchen der Seminarthematik. Die Studierenden sind eingeladen sich vorgegebenen Bedeutungen nicht zu ‚unterwerfen‘, sondern eigenständig an der ‚Produktion‘ von Bedeutung zu partizipieren.
Anwendung
Die Technik, anhand eines Gegenstands über ein Thema zu sprechen, erschließt es auf unaufgeregte Weise und zeichnet es multiperspektivisch. Durch das gemeinsame Auflegen, die entstehende Assemblage und den Austausch darüber entsteht im Klassenraum ein sozialer Raum, der, wenn alle – auch durchaus im Widerspruch – zu Wort kommen, als gemeinsam erlebt und hergestellt erfahren wird. Die Objekte bieten die Möglichkeit einer unverbindlichen Themen-Annäherung jenseits des Planbaren. Sie können im späteren Verlauf aufgegriffen oder bearbeitet werden.
Kurzbeschreibung
Ausgehend von Ansätzen der kritischen Pädagogik (hooks, Freire) sind Dialog und Kommunikation auf Augenhöhe sowie Offenheit Voraussetzungen, um eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden zu bilden. Aber was heißt es, im knappen Zeitraum eines Lehr-Lern-Formates eine Gemeinschaft, ein Kollektiv herzustellen? Und wie können Prozesse der Gruppenbildung gefördert werden?
Erfahrungen
Die Hamburger Fallstudie war als intensive Camp- und Projektsituation außerhalb des universitären „Alltags“ angelegt. Gruppenbildungsprozesse konnten räumlich wie zeitlich intensiviert „wie von selbst“ stattfinden. In Graz verteilte sich die gemeinsame Zeit auf ein Semester, weswegen die Schaffung einer emanzipatorischen Lehr- und Lerngemeinschaft als temporäres Forschungskollektiv dezidiertes Ziel war. Die soziale Beziehung sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Lehrveranstaltungen sahen wir dabei als integrales Moment für das Gelingen an. Ein Ansatz war das interdisziplinäre Teamteaching, das sich an Gleichheit und Anerkennung orientierte. Ziel war es, ein Rollenbewusstsein herzustellen und im Rollenspiel die interdisziplinären Expertisen bewusst einzusetzen. Moderation und Übersetzung wurde als zentrale Aufgabe deutlich: als Choreographieren von Vielstimmigkeit, von Gruppen, Individuen und Motivationen.
Das Lernsetting gestalteten wir nach folgenden Parametern: Kommunikation auf Augenhöhe; Selbstverantwortung in der Organisation und Durchführung der Forschungsprojekte; spartenübergreifende Inputs und Expertise aus der Praxis; Expertise des Zusammendenkens. Unterstützungsangebote durch Lehrende waren eigenverantwortlich einzufordern und es gab einen autonomen Raum zur selbstbestimmten Nutzung.
Anwendung
Für die Herstellung einer temporären Lehr-Lerngemeinschaft empfehlen wir ausreichend Raum und Zeit für Gruppenbildungsprozesse sowie deren Reflexion einzuplanen.
Wesentlich erscheinen Freiräume, die Eigeninitiative und -verantwortung herausfordern sowie informelle Settings des Austauschs, sei dies im Rahmen von get-togethers, durch gemeinsames Kochen nach der Lehreinheit oder durch die Bereitstellung von autonomen Räumen.
Weitere Literatur
hooks, bell (1994): Teaching to Transgress: Education as the Practice of Freedom. New York/London: Routledge.
Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1973.
Paulo Freire & Ira Shor: What is the "Dialogical Method“ of teaching?, in: The Journal of Education, Vol. 169, No. 3, Critical Teaching and Liberatory Education (1987), S. 11-31.
Kurzbeschreibung
Das Gesamtprojekt war interdisziplinär konzipiert und legte damit für alle drei Teilprojekte in Hamburg, Vaduz und Graz eine disziplinenübergreifende Mehrsprachigkeit zugrunde. Diese erforderte ein Aufeinander-Zugehen, Hineindenken und Umdenken sowie vielfältige Übersetzungsleistungen. Die Herausforderung einer (inter-)disziplinären, kognitiven und methodischen Mehrsprachigkeit ist dabei Dreh- und Angelpunkt von Erfahrungen des Verlernens/Unlearning, die immer wieder das spontane Erfinden situationaler Methoden erfordert und bedingt. An allen drei Projektstandorten kamen zudem themen- oder erfahrungsbezogene Ebenen von Mehrsprachigkeit hinzu.
Erfahrungen
In Hamburg trafen unterschiedliche Formen von Öffentlichkeiten und Sprachgewohnheiten aufeinander – der vernetzende Charakter des Projektes erforderte u.a. Übersetzungen zwischen wissenschaftlichem, stadtplanerischem und zivilgesellschaftlichem Diskurs.
In Vaduz waren Studierende der Wirtschaftswissenschaften/Entrepreneurship und Architektur aufgefordert, ethnographische Methoden zu erproben und die Perspektive der Kulturanalyse kennenzulernen. Von Studierendenseite wurde der durch den interdisziplinären Zugang provozierte Perspektivenwechsel als Herausforderung und zugleich als befreienden Aspekt „to think out of the box“ beschrieben.
In Graz initiierten wir aufgrund der internationalen Zusammensetzung und faktischen Mehrsprachigkeit der Studierenden eine „neue“ Umgangsform: SELT – Solidaric-Eye-Level-Translation. Durch diesen Zugang waren alle angehalten ihre (nicht-perfekten) Englisch-Kenntnisse als gemeinsame Sprache zu nutzen. Dies erforderte, sich auf eine vereinfachte Ausdrucksweise einzulassen. Ein direkter Effekt war die Suche nach konzisen Formulierungen für komplexe Sachverhalte. Zugleich bedeutete dies eine Übung im Verlernen des elaborierten akademischen Codes, in dem Sprache und Sprachvermögen als Zeichen intellektuellen Könnens (Bourdieu 2001) gelten. Die vielfältigen kulturellen/internationalen Erfahrungshintergründe der Studierenden kamen bewusst zum Einsatz, um sich dem Forschungsthema aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und zugleich Bezüge zu individuellen Erfahrungsräumen herzustellen.
Anwendung
Mehrsprachigkeit auf verschiedenen Ebenen anzulegen, erfordert die grundlegende Offenheit, aufeinander zuzugehen, umzudenken, zu übersetzen und Umwege als erkenntnisgenerierend aufzufassen. Es braucht Zeit, um sich gegenseitig zu verstehen, Dinge in den eigenen Fachkontext und die eigene Sprache zu übersetzen und eine gemeinsame Sprache zu (er-)finden.
Weitere Literatur
Bourdieu, Pierre (2001): Die konservative Schule. Die soziale Chancenungleichheit gegenüber Schule und Kultur, in: Ders.: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik, hg. von Margareta Steinrücke, Hamburg.
Kurzbeschreibung
Aus der Geografie kommend dienen Kartierungen der Vermessung von Territorien, Räumen oder auch Raumgebilden im weitesten Sinne – eine Praxis also, die insbesondere im Begriff des Mappings auch auf Denkräume oder andere mentale Landschaften anwendbar wird. Die kritische Geografie (Harvey) lehrt uns seit den 1980er Jahren, dass eine objektive Repräsentation räumlicher Gebilde aufgrund der Verstrickungen zwischen sozialer Raumproduktion, subjektivem Erleben und der Materialität von Raumgrenzen nicht möglich ist. Der Akt des Kartierens selbst wirkt raumbildend. Innerhalb kollektiver Kartierungsprozesse verkompliziert sich das Verhältnis zwischen Untersuchungsgegenstand, Ergebnis und Untersucher_innen. Wer sind die Autor_innen der Karte? Wie lässt sich die Deutung des Kartierten wissenschaftlich argumentieren und somit als politische oder gesellschaftliche Entscheidungsgrundlage legitimieren? Wann ist eine Karte fertig und wem gehören die darin versammelten Wissensebenen?
Erfahrungen
In Hamburg wurden während eines einwöchigen Mapping-Camps auf einem ehemaligen Recyclinghof drei Mappings vor Ort erstellt – unter Beteiligung von 13 Studierenden, vier Lehrenden und zwei Forschungsbegleitenden. Nach dem späteren Abriss einiger Gebäudeteile auf dem Hof waren auch die Mappings an Ziegelwänden, auf Stahltüren und am Absperrzaun verschwunden. Als Erzählungen über einen sich im Wandel befindlichen Stadtraum bilden die drei Karten anhand von drei thematischen Schwerpunkten Raumgrenzenvermessung, Aneignungsregelwerke und Akteur-/Aktantenkonstellationen spezifische Momentaufnahmen eines Forschungsprozesses, der Studierenden, Lehrenden und Forschungsbegleitenden Anleitung gab für einen interdisziplinären Austausch zu Eigentumsformen zwischen Urban Design, Architektur und Kulturwissenschaften. Zentraler Diskussionspunkt in der Wissensermittlung anhand der drei Mappings war die Deutung des zeichnerischen Prozesses als forscherische Selbstbeauftragung. Wer oder was gehört in den Raum und anhand welcher Umgangsweisen werden Zugehörigkeit und Zugänglichkeit miteinander verhandelt?
Anwendung
Zur Vorbereitung eines Mapping Camps ist es wichtig, einen Aktionsrahmen zu definieren, innerhalb dessen kollektive Entscheidungsprozesse das Weiterarbeiten bestimmen. Vorausgehende Entwicklung einer Fragestellung und für den Prozess. In fünf Arbeitstagen Warm Up, Action, Transfer, Consolidation und Performance lässt sich eine zeichnerische Versuchsanordnung so strukturieren, dass sich die Gruppe vor Ort zuerst einmal orientiert, dann den Raum durch verschiedene Aktionen aneignet, schließlich unterschiedliche Wissensräume miteinander verschränkt, sich über die zentralen Erkenntnisse klar wird, um diese am Ende nach außen hin zu vermitteln.
Kurzbeschreibung
Die empirische Forschung in kulturwissenschaftlichen Kontexten zeichnet sich durch eine prozessorientierte Arbeitsweise aus. Umwege und Krisen sind integraler Bestandteil der Forschungssettings und es ist keinesfalls als Mangel einzustufen, dass viele Projekte anders realisiert werden, als sie anfangs geplant wurden. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, Anpassungen im Forschungsdesign nachvollziehbar zu machen und zu dokumentieren. Die stetige Revision und Anpassung von Prozessen wird zur erklärten Arbeitsweise.
Erfahrungen
Beim Hamburger Lernforschungsprojekt „Micromappings“ waren die verschiedenen Arbeitsphasen des Seminars im Vorfeld klar strukturiert: Auf eine kritische Auseinandersetzung mit theoretischer Literatur (Kolloquium) folgte als Kernstück des Seminars eine fünftägige Camp-Woche, in der Daten erhoben und bearbeitet wurden (Feldforschung). In der folgenden Dokumentationsphase waren die Studierenden aufgefordert, die erhobenen Materialien visuell aufzubereiten und zu archivieren. Auch die Camp-Woche selbst folgte einer zuvor festgelegten Dynamik (Tag 1: Warm Up, Tag 2: Action, Tag 3: Transfer, Tag 4: Consolidation und Tag 5: Performance) und war auf die Produktion von Forschungsergebnissen ausgerichtet. Innerhalb dieses klaren Aktionsrahmens gab es regelmäßige Zusammenkünfte, an denen gemeinsam eine kritische Rückschau betrieben und kollektiv über das weitere Vorgehen entschieden wurde. Ein wesentliches Mittel des Prozesses war hier das Format der Selbstbeauftragung durch die Studierenden: Wo stehen wir im Forschungsprozess? Wir wollen wir weiter vorgehen? Was nehmen wir uns vor? Was funktioniert so nicht? Wer macht was? Was sind sinnvolle Aktionseinheiten?
Anwendung
In von Offenheit geprägten Forschungsprozessen bedarf es auch auf methodischer Ebene an Flexibilität. Das (methodische) Vorgehen sollte gerade in Forschungsprozessen, in denen Phasen der Erhebung und Auswertung überlappen, stets kritisch reflektiert und ggf. angepasst werden. Ein klarer Rahmen sollte gegeben sein, Momente der kritischen Revision produktiv genutzt werden und die schrittweise Dokumentation des Vorgehens miteinschließen.
Kurzbeschreibung
Für die soziale Dynamik eines Lehr-Lern-Prozesses im Sinne der Herstellung eines temporären Kollektivs ist die Frage der Räume von herausragender Bedeutung. Hierbei sei nicht nur auf den Seminarraum als klassischer Vermittlungsraum verwiesen, sondern besonders auch auf jene Lernräume, die außerhalb der reglementierten „Kontaktstunden“ zwischen Studierenden und Lehrenden zur Verfügung stehen. Vom Bauhaus über das Black Mountain College bis hin zu den Zeichensälen vieler Architekturfakultäten fungieren solche informellen Räume als soziale Katalysatoren, in dem in ihnen soziale Lernprozesse ungezwungen und peer-to-peer stattfinden und inhaltliche Auseinandersetzungen und Alltagsleben sich miteinander verschränken können.
Erfahrungen
In Graz wurde den Studierenden ein leerstehender Universitätsraum zur Verfügung gestellt, den sie im Laufe des Forschungssemesters nach eigenem Ermessen nutzen konnten. Gestaltungsmittel sowie eine architektonische Beratung wurde zur Verfügung gestellt. Zur strukturellen Rahmung war alternierend zur zweiwöchig stattfindenden Lehrveranstaltung ein freiwilliges „autonomes Labor“ dort angesetzt. Ganz konkrete Hindernisse (eingeschränkte Zugänglichkeit, Beeinträchtigung durch einen benachbarten Seminarraum, etc.) verhinderten jedoch eine umfassendere Nutzung und der Raum wurde gestalterisch letztlich kaum angeeignet. Dennoch wurde er von den Projektgruppen immer wieder in Anspruch genommen – auch um seitens der Studierenden eigenständig und kritisch über den Prozess der Lehrveranstaltung zu reflektieren.
Im Rahmen der Projektwoche in Hamburg kam dem Camp am Forschungsort als selbstbestimmter Raum eine große Bedeutung zu. Prozesse der Gruppenbildung, die kollektive Organisation und Logistik des Alltagslebens und eine kontinuierliche Reflektion der Lehrveranstaltung flossen zusammen. Gerade der außeralltägliche Charakter der Projektlehrveranstaltung wurde durch diesen räumlichen Rahmen verstärkt, hatte Einfluss auf die Gruppendynamik und damit auf das Gelingen der Lehrveranstaltung.
Anwendung
Lernen ist nicht nur ein zeitlicher, sondern immer auch ein sozialer und damit räumlicher Prozess. Wo und unter welchen Bedingungen dieser stattfindet, begrenzt und ermöglicht den Erkenntnisprozess. In diesem Sinn macht es auch einen großen Unterschied, ob eine Lehrveranstaltung als bloße Summe der Kontaktstunden gedacht wird, oder ob die Zwischenräume zwischen den Einheiten räumlich mitgestaltet werden: Welche Räume stehen den Studierenden offen? Wo kann gemeinsam gelernt, gewerkt, genetzwerkt werden? Welche Möglichkeiten zur Begegnung und Vertiefung gibt es?
In einem raumforscherischen Setting findet ein Lernprozess immer auch in Reibung mit gewissen räumlichen Erfahrungen statt. In diesem Kontext schafft ein offenes Angebot von selbstverwalteten Räumen zur freien Nutzung und Gestaltung, in denen es etwa möglich ist, Dinge liegen zu lassen, in denen Kennenlernen, Wachsen und Verdichten stattfinden können, neue Möglichkeiten für die Entfaltung kollektiver (Forschungs-)Prozesse.
Kurzbeschreibung
Das Gehen wird in den Humanities (wie in der qualitativen Stadtforschung) zu einem zentralen Werkzeug der explorativen Erkundung gezählt. Hierzu bedienen sie sich vielzähliger Referenzen: im Gehen denken, wie in den Gärten des Akademos sowie der künstlerischen Praxis der Situationisten. Das Gehen bezieht Techniken und Rhythmen des Flanierens, des Umherschweifens, des Abdriftens im Sinne des Détour (Umweg) und möglicherweise des Stolperns mit ein. Über die Bedeutung des Gehens als Alltagspraxis und zur Schärfung der Wahrnehmung des umgebenden Raumes, verstehen wir das Gehen vor allem als ein Mittel der aktiven und selbstermächtigten lokalen Verortung und damit der (temporären) Selbst-Einschreibung in den urbanen Raum. Dementsprechend lässt sich das Gehen als kollektives Experiment aktivistischer Interventionen und subversiver Aktionen im öffentlichen Raum beschreiben. Das Gehen selbst wird zu einem Werkzeug der Positionierung und Sichtbarwerdung, in dessen Prozess auch neue kollektive und soziale Praktiken entstehen können.
Erfahrung
Die Stadt ist ein Erfahrungsraum, dessen Potentiale und Merkmale erst durch den Gebrauch wahrnehmbar werden. Sich gehend im Raum zu bewegen, bedeutet also immer auch sich den Raum anzueignen wie auch ihn überhaupt als (sozialen) Raum herzustellen.
In den drei Praxisprojekten von ValHuman setzten wir jeweils unterschiedliche Formate des Gehens ein, um die Komplexität von städtischen Räumen vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen zu begreifen. Jedes Projekt begann die Forschungen mit einer eigenen Art von Begehung: In Vaduz unternahmen die Studierenden gehend ethnographische Erkundungen von Grenzen und Übergänge im Stadtraum. In Hamburg erfolgte eine erste Annäherung an den Ort des ehemaligen Recycling Hofs mittels eines Soundwalk, einer hörenden Begehung des Raumes. In Graz bewegten sich die Studierenden kontinuierlich in und zwischen unterschiedlichen physischen wie institutionellen Räumen. Diese Begehungen erfolgten mittels einer Reihe von Anleitungen, die im alleine Gehen oder in Paaren, in der Zerstreuung im Raum und im kollektiven Versammeln der subjektiven Erfahrungen reflektiert wurden.
Anwendung
Das Gehen markiert einen spezifischen Umgang mit Zeit: In einem allgemeinen Zustand der Hypermobilität, wirken die Bewegung und der Körper im Raum wie ein Slow Motion, ein Gegenentwurf zu Effizienz, Optimierung und Geschwindigkeit gesellschaftlicher Bedingungen. Das Gehen findet im Hier und Jetzt statt, in situ. Durch die evidente Präsenz, die wahrnehmbare Anwesenheit, entsteht ein spezifisches Verhältnis zwischen Subjekt und umgebendem Raum. Und schließlich ist das Gehen ein Ausdruck einer selbstbestimmten Handlung. Dabei wird Handlung im Sinne Hannah Arendts als ein Prozess der Kommunikation und politische Interaktion, die im öffentlichen Raum stattfindet, verstanden. So kann das Gehen im Raum zum Ausdruck einer politischen Haltung werden.
Weiterführende Literatur
Lisiak, Agata / Cox, Reece / Tienes, Flavia M. / Zbinovsky Braddel, Sophia (2019): A city coming into being. Walking in Berlin with Franz Hessel and Marshall Berman. In: CITY 22/5, 1-17.
Rolshoven, Johanna (2017): Gehen in der Stadt. In: Justin Winkler (Hg.), Gehen in der Stadt. Ein Lesebuch zur Poetik und Rhetorik des städtischen Gehens. Weimar: Jonas Verlag, 95-112.
Westerkamp, Hildegard (2007): Soundwalking. In Angus Carlyle (Hg.) Autumn Leaves, Sound and the Environment in Artistic Parctices. Paris: Double Entendre, CRISAP, 49-54
Die Toolbox ist eine Sammlung an Werkzeugen in progress. Über Rückmeldungen oder eigene Erfahrungen freuen wir uns sehr!